News Vom Ankommen, der Fremde und von Grenzen 9. Dezember 2021
Am 18.11. hätte innerhalb der Literaturreihe „Grenzgänger:in“ eine Lesung mit Sabine Scholl stattfinden sollen. In ihren Büchern beschäftigt sich die Autorin unter anderem mit den Themenbereichen des Ankommens, der Fremde und mit Grenzen. Leider musste die Veranstaltung aufgrund der Corona-Situation abgesagt werden.
Peter Ladstätter, Mitarbeiter der Bibliothek Lustenau, sollte den Abend moderieren und hat sich natürlich eingehend mit ihren Werken befasst und auch viele Fragen vorbereitet. Not macht bekanntlich erfinderisch und so hat er der Autorin seine vorbereiteten Fragen kurzerhand per Mail zukommen lassen. Wir bedanken uns von Herzen für die Beantwortung! Sehr gerne teilen wir mit euch das äußerst interessante Interview.
Interview
Sabine Scholl hätte aus ihren zuletzt erschienen Romanen „Das Gesetz des Dschungels“ und „O.“ gelesen.
Peter Ladstätter: Sind Ihre Hauptpersonen Frauen, da ansonsten immer Männer Hauptpersonen (zumindest in Klassikern der Antike) sind? Oder weil Sie Frauen in den Vordergrund stellen wollen, da bei Flüchtlingen meistens an Männer gedacht bzw. gesprochen wird?
Sabine Scholl: Beide Annahmen sind korrekt.
Peter Ladstätter: Was macht das Fremde so anziehend?
Sabine Scholl: Das Fremde zu erleben ist herausfordernd, das kann angenehm oder unangenehm sein. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden stößt Lernprozesse an, die auch das Eigene in Frage stellen und in der Folge umformen können.
Peter Ladstätter: Was erleichtert die Überwindung von Grenzen?
Sabine Scholl: Definitiv der Reisepass eines Landes, das in der Machtordnung dieser Welt weit oben rangiert.
Peter Ladstätter: Wer definiert „fremd“, „Ankommen“ und „Grenzen“?
Sabine Scholl: Immer derjenige, der ein Land, eine Region beherrscht.
Peter Ladstätter: Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Ankommen gemacht?
Sabine Scholl: Gute und schlechte. Gute, wenn Menschen hilfsbereit und freundlich waren. Schlechte, wenn zu viel Verwirrendes auf einmal die Handlungsfähigkeit beeinträchtigt.
Peter Ladstätter: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Fremde gemacht?
Sabine Scholl: Viele, weil ich in verschiedenen Ländern mit meinen Kindern über längere Zeiträume gelebt und gearbeitet habe. Über diese Einflüsse habe ich vor allem in meinem Essayband „Sprachlos in Japan – Notizen zur globalen Seele“ und auch in „Erfundene Heimaten“ geschrieben.
Peter Ladstätter: Welche Erfahrungen haben Sie mit Grenzen gemacht?
Sabine Scholl: Meist waren die Ländergrenzen kein Problem, der österreichische Reisepass erleichtert das, aber durch jugendliche Dummheit und träge Bürokratien ist es mir passiert, einmal aus Großbritannien abgeschoben und einmal aus Portugal ausgewiesen zu werden. Das waren keine schönen Erfahrungen.
Außerdem sind mir von meinen Reisen die Grenzen zu osteuropäischen Ländern zurzeit des Eisernen Vorhangs noch gut in Erinnerung. Besonders gruselig fand ich die rumänische Grenze. Und als Deutschland noch ein geteiltes Land war, bin ich oft von Wien über Prag und die DDR nach Berlin gereist. Meist mit der Bahn. Fuhr ich in einem Auto mit, konnte ich erfahren, wie an der Grenze von DDR nach Westberlin die Grenzbeamten stets versuchten, den Übergang möglichst unangenehm und langwierig zu gestalten. Die Westberliner stiegen dann aus ihren Autos aus und schoben die Fahrzeuge bei geöffneter Tür Schritt für Schritt, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Das war ein cooles Ritual.
Peter Ladstätter: Kann man jemals Ankommen, wenn man nicht freiwillig gegangen ist? Kann man dann überhaupt zurückkommen oder bleibt man im Niemandsland?
Sabine Scholl: Das Sachbuch des Historikers Andreas Kossert „Flucht“ bietet eine sehr gute Materialsammlung dazu. Es versucht die Geschichte der Menschheit, als Geschichte der Flucht zu definieren. Das ist auch logischer, als das Diktum der Sesshaftigkeit, welches nur mittels Löschungen und Auslassungen glaubhaft gemacht werden kann.
Peter Ladstätter: Kann eine 2. oder 3. Generation ankommen? Kann eine 2. oder 3. Generation nicht mehr fremd sein?
Sabine Scholl: Das hängt sehr stark von der Gesellschaft des Aufnahmelandes ab. Je selbstverständlicher Migration verhandelt wird, je mehr Integrationsbereitschaft mit diesbezüglichen Maßnahmen an den Tag gelegt werden, desto eher gelingt eine für beide Seiten produktive Vermischung von Einheimischen und Dazugekommenen
Peter Ladstätter: Was war das Reizvolle an der Homer´schen Odyssee?
Sabine Scholl: Ich kenne die griechischen Mythen von Kind auf. Die Figuren sind vieldeutig und die Geschichten spannend. Deshalb eignen sie sich sehr gut dazu, sie mit eigenen Fiktionen zu verbinden.
Peter Ladstätter: Wofür steht das O.? O für Odyssee, für Omega = das Ende aller Dinge, für Ondeis = Niemand, für „Die Geschichte der O.“? (Siehe dazu die Rezension von Sabine Haupt auf literaturkritik.de)
Sabine Scholl: O. ist nicht nur ein Buchstabe oder die Abkürzung eines Namens, sondern auch ein Symbol. Es gibt im Roman einige Anspielungen darauf, besonders wo es ums Häkeln geht. O ist auch der Kreis, eine unendliche Bewegung, der Nabel der Welt, etc. das kann sich jeder aussuchen, wie er will.
Peter Ladstätter: Wer ist für Sie ein:e Grenzgänger:in, auch im literarischen Sinne?
Sabine Scholl: Jemand die/der Grenzen zwar wahrnimmt, aber sie überschreitet, weil sie nur Richtmarken sind, keine Gesetze, die sie/er zwingen sollen, sich zu beschränken. Auch im literarischen Sinne.