1000 Serpentinen Angst – Olivia Wenzel
Roman
S.Fischer 2020, 347 Seiten
"Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Großmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen."
Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte. Und von ihrem Zwillingsbruder, der mit siebzehn ums Leben kam.
Herzergreifend, vielstimmig und mit Humor schreibt Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit und über die Rollen, die von der Gesellschaft einem zugewiesen werden.
Die Autorin hat eine ungewöhnliche Form für ihren Roman über viele brandaktuelle Gesellschaftsthemen gewählt. Ein Großteil ist in Dialogform geschrieben, wobei bis zum Schluss nicht klar ist, wer der zweite Protagonist – der Fragesteller - ist. Vielleicht ist es eine Art innere Stimme, die uns oft genug auch unangenehme und kritische Fragen stellt – wir überhören sie nur allzu gerne. Olivia Wenzel nimmt uns in dieser Autofiktion mit auf eine Reise in das Innerste der Ich-Erzählerin, die mal zornig, mal ernst, mal mit viel Humor ihr Leben und das ihrer Familie betrachtet und verstehen versucht.
aj